Linus Birchler, der spätere ETH-Professor für Baugeschichte und Allgemeine Kunstgeschichte, entdeckt als junger Doktorand, dass der Klosterplatz nach akustischen Gesetzen angelegt wurde und sich für Theaterproduktionen speziell gut eignen müsste. In den folgenden Jahren hängt der Einsiedler der Idee nach, vor der barocken Kirche geistliche Spiele aufzuführen. Zwar wurde im berühmten Wallfahrtsort schon in früheren Jahrhunderten Theater gespielt, aber nicht auf dem Klosterplatz, «den man merkwürdigerweise nie für derartige Zwecke benützte», wie Birchler feststellt.
In den ersten Monaten des Jahres 1924 präsentiert Linus Birchler die Idee dem neugewählten Abt Ignaz Staub, der ihm «sein prinzipielles Einverständnis zur Erneuerung der geistlichen Spiele» gibt. Zum Kunsthistoriker und zum Klostervorsteher gesellt sich kurze Zeit später ein Theaterfachmann. Der deutsche Schauspieler Peter Erkelenz ist auf Rezitationstour durch katholische Mittelschulen und macht auf Initiative des Abtes mit Linus Birchler Bekanntschaft. Noch bevor Einsiedler Kunstfreunde und die «Gesellschaft der Waldleute» eingebunden werden, fällt die Wahl auf «Das Grosse Welttheater» von Pedro Calderón de la Barca. Und im selben Jahr wird beschlossen, dass bei guter «Zusammenarbeit des Einsiedler Volkes» dieses «auto sacramental» aufgeführt werden soll. Der Einsiedler Postverwalter und Kantonsrat Franz Kälin setzt das Vorhaben mit Peter Erkelenz als Regisseur, mit professionellen Schauspielern aus Zürich und zahlreichen Mitwirkenden aus dem Klosterdorf innert weniger Wochen um. Die erste von 14 Aufführungen geht am 15. August 1924 über die Freilichtbühne.
Ein Jahr später wird eine mehr oder weniger identische Aufführung gezeigt. Wieder in der Übersetzung von Joseph von Eichendorff und wieder mit Musik, die in Teilen von P. Josef Staub und P. Otto Rehm, zwei Mönchen aus dem Kloster Einsiedeln, komponiert wird.
Fünf Jahre später steht der Regisseur Erkelenz, der nach Amerika ausgewandert ist, nicht mehr zur Verfügung. Für die Inszenierung von 1930 zeichnet neu August Schmid verantwortlich, der in Altdorf bei den Tellspielen Regie geführt hat. Die konzeptionellen Ideen kommen aber im Wesentlichen von Linus Birchler, der bereits in den ersten beiden Spielperioden als künstlerischer Berater tätig war. Neben P. Otto Rehm komponiert erstmals auch dessen Mitbruder P. Pirmin Vetter.
Gleich in vier Spielperioden inszeniert der Theaterwissenschaftler und Regisseur Oskar Eberle das Welttheater. Er setzt zum ersten Mal ausschliesslich auf Laiendarsteller aus dem Dorf und zeigt mit ihnen ein üppiges barockes Spektakel. Die «gewaltigen Spielermassen fluteten, kunstvoll bewegt, über den ganzen weiten Platz». Im Urteil von Fachleuten gelingt ihm «eine Symphonie aus Bewegung, Farbe und Licht». Eberle passt den Text – immer noch in der Eichendorff’schen Übertragung – seiner Inszenierung an, wobei er so weit geht, dass er eine Königskrönung gestaltet, die es im Stück von Calderón gar nicht gibt. Dies gilt auch für die stumme Rolle der «Hohen Frau», die als Zugeständnis an den Spielort Einsiedeln schon in der ersten Aufführung 1924 eingebaut wurde. Die Muttergottes kann sich noch lange im Spiel halten, der barocke Pomp der Inszenierungen von Oskar Eberle, der 1956 stirbt, entspricht aber gegen Ende der 50er-Jahre nicht mehr dem Zeitgeist.
Wer soll die Nachfolge antreten? Werner Düggelin, Oskar Wälterlin oder Ernst Ginsberg? Die Wahl fällt auf den Schauspieler und Regisseur Erwin Kohlund, der auch in Altdorf auf Eberle folgte und Erfahrung im Umgang mit Laien mitbringt. Die graue Eminenz Linus Birchler meint, dass sich Kohlund im Hinblick auf die neue Spielperiode fragen müsse, «ob das Bühnenbild oder das Wort, das Auge oder das Ohr bestimmend sein sollen». Der Regisseur entscheidet sich dafür, «die üppigen Ranken, welche die Dichtung überwucherten, zu beschneiden und dem gezielten Wort seine volle Bedeutung zu geben.» Dass seine Inszenierungen aber keineswegs trocken ausfallen, ist auch das Verdienst des Komponisten Heinrich Sutermeister, der leicht singbare und eingängige Musik beisteuert.
1970 wird Kohlunds dritte Inszenierung in einer Protestaktion am Tag der Premiere als unkritisch angeprangert. Das «Theaterkollektiv Alternative» fordert ein grundlegendes Überdenken des Welttheaters, das von einer gottgewollten hierarchischen Ordnung ausgehe und so die herrschenden Machtverhältnisse legitimiere.
Gegen Ende des Jahrhunderts macht es den Anschein, als ob das Welttheater seine besten Tage hinter sich hätte. Der Welttheatergesellschaft, die 1974 zu ihrem 50-Jahr-Jubiläum mit dem Innerschweizer Kulturpreis ausgezeichnet wird, gelingt es nicht mehr, den bisher üblichen Fünfjahresrhythmus einzuhalten. Es gibt 1975 keine Aufführung und auch 1980 nicht. Finanzielle, künstlerische und inhaltliche Überlegungen verlangen ein Innehalten und lösen eine breite Debatte über die Zukunft der Einsiedler Welttheater-Tradition aus. Zu einer Verzögerung kommt es aber auch, weil eine schweizerdeutsche Fassung von Hansjörg Schneider vom Spielvolk abgelehnt wird.
Erst elf Jahre nach der letzten Spielperiode gelingt 1981 eine Neuinszenierung. Der Schauspieler und Regisseur Hans Gerd Kübel stützt sich dabei auf eine zeitgemässere Übersetzung, die von ihm selber und Wolfgang Franke stammt, und lässt die Hauptfiguren nicht mehr von Individuen, sondern von Gruppen verkörpern. Die Musik zu einem Schauspiel, das nun mehr Theater und weniger Gottesdienst ist, stammt vom früheren Stiftskapellmeister P. Daniel Meier.
In der Beurteilung von Fiona Gruber, die alle Regiekonzepte seit 1924 analysierte, verfolgt der neue Regisseur Dieter Bitterli «nach Kübels Aktualisierungsintentionen einen restaurativen Kurs». Dies im Verein mit der Welttheatergesellschaft, die für 1987 ausdrücklich ein barockes Historienspiel wünschte. Diesem Anliegen kommt er nach, indem er «dem Auge viel Schönes» bietet und ein Fest auf die Bühne bringt. Diese Bühne ist nicht ein grosses P (für Pax), wie bei Hans Gerd Kübel, oder der ganze Klosterplatz, wie in den vorherigen Inszenierungen, sondern eine «stilisierte Landschaft als Erdenkreis». Während er in der ersten seiner beiden Spielperioden die Klosterfassade zu wenig miteinbezieht, lässt er sie 1992 «in unterschiedlichen Farben und Stimmungen illuminieren». Düster hingegen sieht es in der Kasse aus. Das eingespielte Defizit zwingt die Verantwortlichen nun endgültig dazu, ihr Welttheater zu überdenken.
Seit der Protestaktion 1970 sind fast 30 Jahre vergangen. Aber erst jetzt bemüht sich die Welttheatergesellschaft um eine Neufassung des Spiels, die sich nicht mehr nur Calderón, sondern auch den aktuellen Fragestellungen verpflichtet fühlt. Der von der Stiftsschule Einsiedeln geprägte Autor Thomas Hürlimann und der Regisseur Volker Hesse bringen in den Jahren 2000 und 2007 nicht «Das Grosse Welttheater» auf die Bühne, sondern «Das Einsiedler Welttheater». Damit wird schon angedeutet, dass es sich um Nachdichtungen des ursprünglichen «auto sacramental» handelt. Die Grundzüge und die Anlage des Spiels aus dem 17. Jahrhundert bleiben zwar erhalten, aber die Handlung ist im Hier und Heute angesiedelt. Die beiden Neufassungen vermitteln dem Publikum nicht mehr Gewissheiten, sondern sie stellen Fragen, die jede Zuschauerin und jeder Zuschauer für sich selbst beantworten muss.
Auch 2013, in der bisher letzten Spielperiode, ist «Das Einsiedler Welttheater» eine Nachdichtung. Das von Beat Fäh inszenierte Stück von Tim Krohn stellt unsere Eingriffe in die Schöpfung, unser Streben nach Perfektion, unsere Gier nach Glück und Grösse in den Mittelpunkt.
Quellen:
- «Das Grosse Welttheater von Calderón de la Barca in Einsiedeln», ein geschichtlicher Abriss von Wernerkarl Kälin, Schriften des Kulturvereins Chärnehus, Nr. 17, 1991
- «Dem Meister ein Spiel – Calderón, die Einsiedler und ihr Welttheater», Katalog zur gleichnamigen Ausstellung von Detta Kälin im Museum Fram, 2013